Eigentlich fängt alles so an, ich schaue, höre, sammle: Wörter, Texte, Textfragmente. Unterwegs Aufgeschnapptes in Bussen und Bahnen, auf der Straße Gehörtes, auf elektronischen Plakatwänden Entdecktes, im Supermarkt, aus Büchern und Zeitungen.
So ist meine sich ständig erweiternde Sammlung entstanden, mein Fundus, auf den ich zurückgreife. Ein Wort, ein Satz kann Ausgangspunkt werden für ein Objekt, eine Installation, ein Unikatbuch. Ich arbeite, recherchiere, arbeite weiter, es ist wie ein Puzzle, irgendwann passt alles perfekt, das ist der Moment, auf den ich hin arbeite.
Es sind nicht die intellektuellen kopflastigen Wortschöpfungen, die mich reizen, sondern der Alltag mit seinen Widersprüchlichkeiten.
Meine Themen kreisen um Glücksverheißungen, Scheitern, Angst, Zwang, Gewalt, Überwachung. Häufig wurden meine Arbeiten auf die Beziehungsebene zwischen Mann und Frau reduziert, natürlich spielt auch sie eine Rolle, aber diese Reduzierung und bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen haben mich geärgert, wohl auch deshalb sind meine Arbeiten aggressiver geworden, nicht mehr so beiläufig oder wie en passant entstanden. Zu glauben, dass es sich in meinen Arbeiten um persönliche Erlebnisse handelt, wäre ein großes Missverständnis. Ich mache keine biografische Kunst, alles ist ausnahmslos inszeniert.
Schon einzelne frühe Arbeiten waren für mich zugleich Teile einer größeren Geschichte. Ergänzend zu Bild und Objekt baue ich Aufforderungen oder provozierende Fragen ein, kühl und sachlich und doch emotional. Was mich interessiert, ist nicht das total Abgedrehte, das größtmögliche …., das interessiert mich in der Kunst ebenso wenig wie das Glück.
Der Alltag, die Langeweile, die Bedingungen, denen ein Mensch ausgesetzt ist, zu jeder Zeit, in jedem Moment, mich interessiert der Druck, der auf Menschen lastet, die Zwänge, denen er unterliegt, und alles, was einen zermürbt.
Dazu kommen noch die großen politischen Themen. Meine Protagonisten sind allesamt keine Helden oder Heldinnen, sie sind weder glücklich noch verrückt, sie scheitern nur immer: die gleichförmigen Tage, die einfach so weg sind, die uns aushöhlen, dieses Irgendwie-Funktionieren, dieses Irgendwie-Durchkommen-Müssen. Eine Nullzone: kein Verlust, kein Gewinn. Das sich Ständig-Wiederholende, das ist die eigentliche Tragik, deshalb die humorvollen Akzente, anders ist das alles kaum zu ertragen.
Auch wenn es so wirkt, als sei alles spontan und beiläufig entstanden und einfach so passiert: es steckt ein langer Prozess der Reduktion dahinter, bis es wirklich sitzt. Mit Texten muss ich sehr präzise arbeiten, was ist verzichtbar, überflüssig.
Meine Bilder / Abbildungen sind manchmal drastisch, Bild und Worte müssen „funktionieren“, die Bilder auf einer anderen Ebene der Wahrnehmung als die Worte. Für den Betrachter sorgen neben den nüchtern-lakonischen Feststellungen auf den Bild-Wort-Arbeiten die offenen Fragen für Irritationen.
Fragen interessieren mich einfach mehr als Antworten. Ich möchte und kann nicht sagen, die Antwort ist so oder so, es gibt kein Rezept für die richtige Antwort. Wir sind gefragt, selber darüber nachzudenken, was es heißt, am Leben zu sein im Hier und Jetzt. Ich möchte meine Arbeiten nicht interpretieren, sie sollen so offen wie möglich sein. Eine „Antwort“ kann zum Beispiel lauten „ich weiß es nicht“, Zweifel zu haben kann sehr produktiv sein.
Ob Kunst die Welt zum Besseren verändern kann, ist eine schwierige Frage. Vielleicht, ja. Bildende Kunst ist wichtig, aber ich bin keine Sozialromantikerin, da sollte man sich lieber politisch engagieren. Bildende Kunst besetzt nur eine kleine Nische, im Gegensatz zu Film und Musik, die eine viel größere Breitenwirksamkeit haben. Ich glaube nicht, dass Künstler sich jedes Mal die Frage stellen, ob ihre Kunst die Welt verändert, sie haben Ideen, visuell, textlich, das funktioniert viel intuitiver.
Eine besondere Sparte innerhalb meines Tuns bilden die Unikatbücher, die seit langem parallel zu Objekten und Installationen entstehen.
Helga Weidenmüller findet lose enden . In Form von Bildern und Worten. Bilder: Große Kunst und kleine Illustrierten-Bilder. Worte: Große Lyrik und Wortfragmente des Alltags. Bunte Buchstaben werden im Stil der anonymen Briefe aus dem Fernsehkrimi nebeneinander gelegt. Was vermeintlich nicht zusammengehört, fügt Helga Weidenmüller in bester von den Kubisten erfundener Collagemanier mit scharfer Schere und gut haftendem Kleber zusammen. Sie spielt ein doppeltes Spiel. Gibt die Autorenschaft (wie der anonyme Schreiber im Fernsehkrimi) ab an fremde Schrift und Buchstaben…
…locker verbunden …
Dabei ist es immer Helga Weidenmüller. Niemand sonst, der dem Leser etwas mitteilt. Bilder und Wörter lösen etwas aus in ihrem Denken und Fühlen. Das notiert die Künstlerin. Mit dem Bleistift, dem Farbstift. Mit Worten und Linien. Sie notiert und malt Gedachtes und Erfühltes. Gibt Einblicke in ihr Denken. Öffnet ihre Türen. Lose Enden werden von ihrlocker verbunden. Lauter Bitte! Es geht um die Frauen. Wer wenn nicht wir! Warum es heute klasse ist, eine Frau zu sein. Ich will aussehen wie ich, nur schöner. And what would you do for love? Es geht um die Frauen. Schnipsel werden locker mit Schnipseln verbunden, mit den Schönheitsidealen aus der Werbung, die Helga Weidenmüller konterkariert, denen sie Hörner aufsetzt. Der Frosch darf seine Krone behalten, der Frau fällt ein Zacken aus selbiger. Hat sie auch gar nicht nötig…
…neues erfunden.
Neues erfinden – das sollte das Ziel einer jeden Künstlerin sein. Dass Neues erfunden werden kann, indem Altes eingesetzt und verwendet wird und mit Neuem, Eigenem kombiniert wird, beweist Helga Weidenmüller. Wie in einer Traumsequenz taucht neben der Hose eine Wolfgestalt im Mantel auf, springt der Frosch neben dem gedeckten Tisch mit Hühnchen. Gekrönt im Übrigen. Doch Kronen kullern, Teufelchen fliegen durch dieses Buch. Eine wahre Schatztruhe an Erfindungen. Dass Frau sich neu erfinden kann, das sie sich frei machen kann von Diktaten anderer, dass sie aufstehen und lauter werden kann: das zeigt die Künstlerin, dazu motiviert und animiert sie.
Helga Weidenmüller findet. Bilder und Worte. Lose Enden werden locker verbunden und dabei wird Neues erfunden.
Gut so.
Copyright: Sigrid Blomen-Radermacher, 2020
Über die Arbeit von Helga Weidenmüller
Gehen ist für die Künstlerin Helga Weidenmüller weit mehr
als eine alltägliche Bewegung. Es ist eher eine bewegte Lebensform: Im Rhythmus
ihrer persönlichen Entwicklungsschritte sammelt Helga Weidenmüller Erfahrungen
– als Künstlerin und als Mensch.
Ihre vielfältigen Objekte rufen bei Betrachterinnen und Betrachtern durchaus Irritationen hervor. Das sei, so Helga Weidenmüller, nicht unbedingt beabsichtigt, aber auch nicht gänzlich zu vermeiden. Sie ist neugierige Schöpferin und bejahend Schaffende. Sie ist Mensch. Sie lebt Kunst – gehend. Abzweige und Weggabelungen begreift sie als Chance auf Neues, noch Unerprobtes.
Im Tun spürt sie die Kraft der Kunst. Sehen und Tun fallen
bei ihr zusammen. Sie sind ihr Kompass, der es ihr erlaubt, vom Wege
abzuweichen, um eine andere Richtung einzuschlagen. Umwege führen dabei direkt
zum Ziel.
Offensichtliches, Widersprüchliches, Irritierendes
Ihre künstlerische Ausdrucksstärke manifestiert sich auch
auf unerprobtem Terrain. Erfahrungen unterschiedlichster Art werden Teil ihrer
künstlerischen Landkarte. Hier ein Blick, dort ein Wort. Zufällige Begegnungen,
unterwegs Aufgeschnapptes, bunte Reklame – alles kann Teil ihres künstlerischen
Netzes werden. Sie verbindet eine enorme Vielfalt an Gesehenem, Gehörtem,
Erlebtem, Erdachtem in Zeichnungen und Collagen, in Objekten, Plastiken und
Installationen. Sie stellt Beziehungen her, analysiert den Alltag mit seiner
Offensichtlichkeit, seinen Täuschungen,
Widersprüchen und Irritationen.
Sie arbeitet am großen Ganzen und feilt an Details, die sie auf überraschende Weise miteinander verzahnt. So knüpft sie
ein kunstvolles Netz und schafft neue Dimensionen, neue Wirklichkeiten. Ihre
einzigartigen Künstlerbücher spiegeln ihre Arbeitsweise eindrucksvoll wider.
Als Fundort und Speicher, als Zeitspur und als intimer Raum zeigen sie
beispielhaft, wie die Künstlerin Welt erlebt und Welten erschafft.
Begegnungen
Ihre aus Gips hergestellten
Fußabformungen, deren Entstehungsprozesse Füße zur Ruhe zwangen,
gewinnen eine eigentümliche Dynamik in den Installationen der Künstlerin. Es ist spürbar, wie der Kunst-Gegenstand mit dem Raum interagiert.
Copyright: Andrea Himmelstoß, 2021
Eine „Begegnung“ der besonderen Art
hält das Objekt von Helga Weidemüller
bereit. Unwillkürlich entlockt es dem Betrachter ein Schmunzeln. Steht doch ein
mit Jackett, Hemd und Hose bekleideter Hase in einer nachdenklichen Pose die
Pfoten hinter dem Rücken verschränkt vor seinem auf einem Sockel platzierten
„Hasenschädel“. Auch dieser wiederum ist eine sehr ironische Täuschung. Denn
zur Verdeutlichung des eigenwilligen „Memento mori“ sind die langen Ohren
ebenfalls in Knochengestalt dargestellt.
Man kommt nicht um hin das berühmte
Bild des verzweifelten Hamlet vor dem innern Augen Aufsteigen zu sehen, der die
existentielle Frage „Sein oder nicht sein?“ in den Raum stellt.
Gerade die Diskrepanz zwischen der
plüschigen Darstellung des Häschens und der damit aufgeworfenen Sinnfrage
bewirkt einen Moment der Irritation. In der Kunst ist alles möglich, alles ist
erlaubt. Bei aller Absurdität in der Darstellung bleibt doch immer auch ein
Augenblick des Hinterfragens zurück. Ein - was wäre wenn…?
© Dr. Husmeier-Schirlitz, 2011
Wie eine zeitgenössische Version von Shakespeares Mitsommernachtstraum liest sich die begehbare Installation von Helga Weidenmüller, gespickt mit auf leisen Sohlen daherkommenden Sinnestäuschungen, Rollentarnungen, Verwechslungen und merlinschen Formenspiele.
Christina zu Mecklenburg
„Nahezu wörtlich, mit allen der Sprache und dem Material innewohnenden Ambivalenzen, bringt Helga Weidenmüller zum Ausdruck, dass die Konsequenz ihres Erlebens die Kunst ist.
„Sehen“ ist bei ihr im wörtlichen Sinne „Handlung“.
Jutta Saum 08 / 2005
„Treibgut“ begegnet uns in Fußform auf einem Schachbrettmuster auf dem Holzboden des Ausstellungsraums. Hier hat Helga Weidenmüller 32 unterschiedliche Paar Fußabformungen aus Gips in einer Richtung installiert. Dass die Künstlerin bei der Installation auf den Abdruck des Fußes wählt, ist kein Zufall, ist dies doch der Körperteil, der den Lebensweg wesentlich begeht. Zugleich ist er auch ein sehr empfindsamer und intimer Teil des Menschen, der zahlreiche Nervenenden eint.
Menschen stellten ihre Füße für einen
Abdruck zur Verfügung, ließen sich die Füße salben und mit Gips verbinden, um
dann entindividualisiert als Teil ihres Selbst zum Teil eines Kollektivs und
Teil eines Kunstwerkes zu werden. Die Körperfragmente sind geordnet und zugleich
isoliert. Sie begegnen uns im strengen und dennoch spielerisch konnotierten
Schwarz-Weiß. Die Assoziationen sind vielfältig: Verletzungen sind durch die
vereinzelten Bruch- und Fehlstellen markiert, die Isolation der Paare durch die
strenge Zuweisung zum Quadrat verbildlicht, die Marschrichtung und Synchronität
der Anordnung erinnert an militärischen Gleichschritt. Jeder treibt für sich,
und doch strömen alle unweigerlich in dieselbe Richtung.
© Marion Eisele M.A.