Einführungsrede von Dr. Helmut Blochwitz am 15.04.2012:
Im Gemeinderaum nebenan zeigt Helga Weidenmüller Collagen und Fotografien von eigenen Collagen und Kunstobjekten. Auch diese Arbeiten stehen allesamt unter dem Titel "Neues Leben", insofern sie in einem künstlerischen Prozess Altes in Neues transformieren, wie Marlies Blauth, die Kuratorin, in ihrer Pressemitteilung vermerkt hat.
Die Künstlerin Helga Weidenmüller hat zum Teil auf bereits geschaffene Arbeiten zurückgegriffen und für die Apsis neu komponiert. Dies gilt für die Brust- und Fußabformungen. Beide Objektgruppen waren, aber in einem ganz anderen konzeptionellen Kontext als hier, bereits im Frauenmuseum Bonn ausgestellt. Auch das bootartige Objekt, das hier in der Apsis schwebt, steht mit einer früheren Arbeit von H.W. in einem formalen und inhaltlichen Zusammenhang. Auf dem Schoß der Pilgerin, einer Skulptur, die H.W. für den Martinus-Kunst-Weg in Kaarst geschaffen hat, liegt eine Schale in Form eines Bootes. Das Vorbild ist aus der Natur entnommen, und zwar das Hochblatt (Spatha) einer Dattelpalme. Hier in der Apsis sogar ganz konkret. Das Hochblatt des Blütenstandes der Dattelpalme, dass Sie hier sehen, ist nur äußerlich mit schwarzer Farbe und Blei bearbeitet. Die Form aber ist originär. Mehr ...
Und diese Form versteht H. W. als multifunktional: als Boot kann man sich damit fortbewegen, fort von Etwas und hin zu Etwas, als Schale kann sie etwas aufnehmen und bewahren. Dreht man die Form um. bildet sie ein schützendes Gehäuse.
Ebenso die Brust- und Fußabformungen; sie sind mit Gipsgaze abgeformte Hohlkörper, die etwas umfangen und von äußeren Einwirkungen beschützen können.
Die Installation als Gesamtobjekt: Welche Bedeutung kann dem Bild, dem bootartigen Objekt, den auf zwei Sockeln befindlichen Brustabformungen und den auf dem Boden angeordneten Fußabformungen gegeben werden? Und - vor allem - wie können die einzelnen Objekte und Objektgruppen auf einander bezogen und als eine in sich geschlossene Komposition mit dem Titel "Neues Leben" verstanden werden?
In einem ersten Schritt würden wir wohl sagen, dass die einzelnen Objekte - das Bild zunächst ausgenommen - auf etwas außerhalb von ihnen selbst verweisen. Das Hochblatt der Dattelpalme, das von Natur aus wie ein Boot geformt ist, verweist auf die Gegenstandswelt von Booten, nicht notwendig, aber möglich. Die Brustabformungen verweisen auf die Gegenstandswelt von weiblichen Brüsten in ihrer je eigenen Individualität, und die Fußabformungen verweisen auf die Gegenstandswelt menschlicher Füße in ihrer je eigenen Individualität. Der Betrachter kann bei diesen Gegenständen verweilen und der sichtbaren Individualität nachspüren. Die Verweise beziehen sich jedoch nicht vorrangig auf die realen, materialen Gegenstandswelten, sondern vielmehr auf die den Gegenstandswelten zugeschriebenen Bedeutungen. Und zwar die vom je eigenen Betrachter zugeschriebenen Bedeutungen. Kurz: die Installation führt uns auf die Ebene symbolischer Bedeutung.
So können wir in einem zweiten Schritt der Annäherung an die Installation nach der symbolischen Bedeutung des Bootes fragen. - Sie merken, wir haben uns jetzt schon, was dieses Objekt anbelangt, festgelegt, andere Deutungen hinten angestellt. Weiterhin fragen wir nach der symbolischen Bedeutung der Brust- und Fußabformungen. Die Bedeutungsvielfalt dieser drei Gegenstandsbereiche ist nun durch den Titel der Arbeit "Neues Leben" naturgemäß eingeschränkt. Nicht jede Assoziation ist in Bezug auf den Titel deshalb sinnvoll. Trüge die Installation bloß den Titel "Leben", wären die möglichen Deutungen beträchtlich größer und vielfältiger. Das wird die Situation des Betrachters sein, der nicht den Titel der Arbeit kennt, aber unverkennbar sieht, dass diese Installation menschliches Leben thematisiert. Dafür stehen die weiblichen Brustabformungen und die menschlichen Fußabformungen. Ich zitiere hier noch einmal, aber verkürzt, Marlies Blauth:
"Die weibliche Brust als das Lebensspendende (...), auf dem Boden Abformungen verschiedenster Füße als Hinweis auf den Weg, den Lebensweg eines jeden Menschen."
Kennt der Betrachter den Titel der Arbeit und lässt sich darauf ein, dann wird ihn der Titel in seinen Deutungsversuchen leiten.
Aber, der Ausdruck "Neues Leben" ist vielschichtig und vieldeutig wie die Installation selber vielschichtig und vieldeutig ist.
Schaut man sich die Kontexte an, in denen der Ausdruck "Neues Leben" erscheint, stößt man auf mindestens drei Bedeutungsebenen, wobei Leben hier immer das menschliche Leben meint.
Erstens: "Neues Leben" in der Bedeutung von Eintritt in das menschliche Leben qua Geburt.
Zweitens: "Neues Leben" in der Bedeutung eines zweiten, eines dritten usw. Lebens nach der Geburt. Das kann der Beginn eines neuen Lebensabschnittes meinen, etwa nach dem Ende der Berufsarbeit, nach einer schweren Krankheit, nach Tod oder Trennung des bisherigen Lebensgefährten, oder nach einer religiösen Erweckung, usw.
Drittens: "Neues Leben" in der christlichen Bedeutung, d.i. das Leben nach dem irdischen Tod.
Für alle drei Bedeutungsbereiche gilt, dass das "Neue Leben" durch einen Anfang in Gang gesetzt wird, wobei wir nun bei dem Bild in der Apsis wären, das mit "Anfang" betitelt ist. Und weil uns jeder wirkliche Anfang verschlossen ist, der Anfang unserer Geburt, der Anfang eines zweiten oder x-ten Lebens im Diesseits, der Anfang unseres Lebens nach dem Tod, zeigt H. W.s Bild mit diesem Titel keine, oder, wenn doch, so nur eine unscharfe Gegenständlichkeit. Jeder wahre Anfang ist transzendent, d.h. er entzieht sich dem Zugriff durch unsere Vernunft. Der Anfang zu einem "Neuen Leben" - wie immer auch verstanden - geschieht uns ereignishaft, rational verstehen können wir ihn nicht. Die Evolutionstheorie teilt uns Vieles über Entstehung und Entwicklung von Leben mit, aber auch sie kann uns den Anfang aus dem Nichts (creatio ex nihilo) nicht erklären. Auf diese und ähnliche Einsichten in die Grenzen des kognitiv Verstehbaren hat schon immer die gegenstandslose Malerei verwiesen, wenn sie sich denn selber richtig verstanden hat.
Weiterhin gilt für alle drei Bedeutungsbereiche, dass das "Neue Leben" ein prozesshafter Vorgang ist. Es kommt ein neuer Prozess in Gang, der weitere Prozesse nach sicht sieht. Das gilt für die Geburt, gilt für das zweite oder x-te Leben im Diesseits und gilt für das Leben nach dem Tod. Und damit sind wir in unseren Überlegungen bei dem Boot als Symbol für Abfahrt und Ankunft, für die Reise ins Leben, im Leben und aus dem Leben.
Für alle drei Bedeutungsbereiche gibt es eine Vielzahl von Sinnkonkretisationen. Kunstwerke eröffnen naturgemäß viele Deutungsmöglichkeiten. Oder anders ausgedrückt: sie verweigern sich naturgemäß einer einzigen abschließenden Deutung. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Installationen wie diese, dem Betrachter nicht vorschreiben, wie die einzelnen Gruppenobjekte gewichtet werden sollen und welche der möglichen Symbolebenen bevorzugt werden sollte.
Man missversteht Kunstwerke, wenn man annimmt, dass in ihnen eine bestimmte vom Künstler beabsichtigte Bedeutung abgelegt und festgeschrieben ist, dass das Kunstwerk eine untergründige Bedeutung enthält, die vom Betrachter enträtselt werden müsste. Die Bedeutung eines Kunstwerkes ist immer nur in der je eigenen Interpretation des Betrachters in seiner vereinzelten Einmaligkeit gegeben. Und das gilt auch für den Künstler, der einen Schritt zurücktritt und das von ihm geschaffene Werk betrachtet. Aber wir können über die je eigene Interpretation sprechen und in einem Diskurs über ihre Plausibilität eintreten. Denn nicht jede Assoziation ist mit Blick auf das konkrete Kunstwerk sinnvoll.
Über Vieles, das für diese Rauminstallation wichtig und charakteristisch ist, habe ich an dieser Stelle noch gar nichts gesagt. Ich habe nichts über die gewebeartige Materialität der weißen fragilen Brust- und Fußabformungen gesagt und nichts über den formalen Aufbau der Installation als Raum im Raum. ... (gekürzte Fassung)
Dr. Helmut Blochwitz, 14.04.2012